Stadtprosaist Egon Kotzbue

Stadtprosaist Egon Kotzbue

PROZESSTAGE
An einem strahlenden Septembertag befand sich Egon Kotzbue im Stadtgarten mitten in der gebrochenen Durchsichtigkeit der Luft des sinkenden Sommers. Seit kurzem auf seine Heimatstadt eingeschworen, schlug er sich den Büschen, die sich schon leicht färbten, entlang hinter das ehemalige Gymnasium, das vor Jahren zu einem Kunstmuseum umgebaut war.
An dem berühmten, schmuck renovierten Barockhäuschen vorbei bemerkte er rechts die gedrückte Bleiverdachung des neuen Stadttheaters, eine Art getarnter Bunker. Zur Linken stand der vor kurzem ausgeschalte Neubau des Coop-Einkaufszentrums vom Aussehen einer Stereoanlage, die gerade kaputt gegangen war und von der man nicht wußte, ob man sie noch einmal reparieren oder auf den Schrott werfen sollte. Der alte Stadtpark, das Anmutige dieses schönen Gartens, in dem sich ein offener Kunstsinn erhalten hatte, war von diesem Primitivbau geschädigt.
Kotzbue ging zum Bezirksgebäude weiter, wo vorgestern der Prozess gegen den bis zum Schuldspruch noch mutmaßlichen deutschen RAF-Mann Rolf Clemens Wagner begonnen hatte. Das Gericht war von einem Stacheldrahtverhau umgeben, blaubemützte Polizeigrenadiere patrouillierten mit Maschinenpistolen. Man ließ Kotzbue zwar bis zum Hauseingang vor, wo ein Gardechef ihm erklärte, er werde nicht zugelassen.
Hier hatte Kotzbue vor einem Jahr mit seinem amerikanischen Freund Mikel Corn gestanden. Sie hatten die riesigen Bäume bewundert, diese Villa – alles von großbürgerlich-gediegenem Anstrich, der Mikels kleinstadt-romantischen Europa-Vorstellungen entsprach. Bis vor dreißig Jahren war diese Gegend die Örtlichkeit erstaunlich avantgardistischer Kunstförderung gewesen. Alban Berg hatte hier seine „Lulu“ konzipiert. Seither war auf die Stadt eine provinziell-konservative Ruhe herabgesunken, heute günstig, um diesem Klugen, der geschossen hatte, ungestört den Prozess zu machen.
Einen größeren Gegensatz als den zwischen dieser helvetisch-zeitlosen Baumeinfriedung und dem deutschen Großstadtterroristen konnte sich Kotzbue nicht vorstellen. Oder war dieser Wagner gar kein politischer Avantgardist, nur ein altmodischer Mensch? – Konnte man von ihm etwas lernen? Und falls ja, in der Vorwärts- oder der Rückwärtsrichtung der Zeit?
Kotzbue verriet dem Gardechef unvorsichtigerweise, er sei ein Stadtprosaist und wünsche zu den Stätten des Geschehens, sozusagen als Chronikschreiber, zugelassen zu werden. Die Polizisten lachten und erklärten- indem sie ihre Maschinenpistolen auf ihn richteten – sich bereit, ihn freundlicherweise, einen erbarmenswürdigen Müßiggänger, abzuschießen, statt ihn mit seinen Federn, mit Tusche- und Lackfläschchen einzulassen. Dort sei die Wartekolonne; er solle sich hinten anstellen wie jeder andere, aber ohne Aussicht, heute noch reinzukommen.
Sie ballerten , um ihn zu erschrecken, eine Salve in die Bäume. Einige Spatzen fielen zu Boden. Kotzbue schritt die Lindstraße zurück. Er fand es einen beachtlichen Blutzoll für seinen vergeblichen Geistesansturm auf dieses aktenstrotzende, aber in seinen Manuskripten noch nicht aktenkundige Gericht, wo Prosa nicht galt.