«... vielleicht werdeich verabsolutiert ...»

«… vielleicht werde
ich verabsolutiert …»

SO WEIT WIE CASANOVA AUTOBIOGRAPHIE
Viele fanden es wieder angebracht, über eine Peinlichkeit wie diese Autobiographie zu schweigen. Ich mußte verrückt sein, mich vor den Lesern derart nackt zu präsentieren.

Vorausbeschimpfung

Schopenhauers Dissertation „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“ habe ich immer noch nicht gelesen, aber ich möchte kurz die vier Gründe für die Verfassung dieser Autobiographie nennen, die mir zureichend erschienen, als Wurzeln des Werkes zu dienen. Erstens bat man mich, meine Kindergeschichten aufzuschreiben, was nun endlich geschehen ist. Sie seien, wenn ich sie erzähle, köstlicher als alles, was ich je geschrieben hätte, wurde behauptet; und nun können diejenigen, die sie gehört haben, prüfen, ob das zutrifft.
Zweitens war ich lange Zeit der extremste Erote der deutschsprachigen Literatur seit dem Zweiten, Ersten, dem Sieben- und Dreißigjährigen Weltkrieg, und so mögen die Leser wissen, was sich in meinem Leben wahrhaft zugetragen hat, wodurch drittens auch mein Bekenntnisdrang befriedigt wird.
Oscar Wildes Freund Frank Harris, dessen Buch „My Life and Loves“ diesem Werk Pate stand, findet, er hätte damit fünf Jahre früher statt erst mit zweiundsechzig beginne sollen. Und mich fordert – was die vierte Wurzel dieses Werks bedeutet, ein Zürcher Buchhändler auf, mein Leben zu Papier zu bringen, solange ich noch im Safte sei, damit es nicht so geglättet daherkäme wie in manchem Memoirenwerk und die Dissonanzen noch voll zum Klingen kämen.
Die Schweizer Literatur ist mit ihren moralisierenden Tendenzen schon beinahe auf Kinderstufe angelangt, was denn auch Frank Harris bei der viktorianischen Literatur feststellt: sie sei zur Ammenliteratur verkommen. So möge dieses Buch den Philistern und Knackern in den Literaturgremien der Schweiz ein Anlass zu Missfallen werden, denn ich glaub, es gibt nichts Edleres für eine Schriftsteller, als dies Heuchier und Landesv(err)äter immer wieder zu ärgern und zu kränken. Sie meinen, den Geist zu vertreten, wenn sie ihre Sklerose und ihr Zipperlein als die gültigen Ellen an das anlegen, was sie als das Schweizer Schrifttum anerkennen. „O ihr Menschen, was habe ich gelitten unter ihrer Beschränktheit!“ dürfte ich schreien wie Beethoven und Rilke, und doch habe ich hier nur Gelegenheit, einen Rufmord an ihnen zu begehen, weil sie mich nicht erhörten. So fühle ich mich berechtigt, mein Leben zu veröffentlichen, auch wenn es ihnen als der Bericht eines Irren erscheint, denn sie sehen sich als die Normalen, die einen wie mich wie Unkraut ausrotten müssen, durch Ersticken, Vergraben, Unterdrücken und Verdammen seiner Schriften. Der liebe Gott vergelt’s ihnen mit den Strafen, die er in der Hölle für sie bereithält und die Hieronymus Bosch für die Akademie der Künste (und der Literatur) und ihre Doktoren in Wien gemalt hat. Und mir gebe er einen Gutschein für Dr. Oetkers Gala-Schokoladepudding, wie ihn Gisela kochte, die mir beim Kürzen half, wenn ich in den Himmel komme. Denn vielleicht werde ich verabsolutiert, weil ich die Letzten Dinge doch meist verschwiegen habe, damit dieses Buch nicht zu dick werde und Leser finde. Diejenigen, welche „dicke“ Bücher – nicht solche von Dickens, dem Braven- lieben, kaufen schon lang keine mehr, weil sie schon zu oft gelangweilt wurden. Gutenbergs deutsche Druckerschwärze ist gräulich geworden, und ein echter Raben-Literat kann mit seinem Schnabel zu ihr nicht mehr Farbe bekennen. Die Mäzene der Großverlage verdünnen den Saft und scheuchen die echten Käufer von den Büchertischen weg. So mußte auch ich viele Dinge weglassen, was die alte, eingebaute Lüge ist, die jedes Buch enthält und wodurch ich der Flügel verslustig gehe, die den bei der Himmelspforte ankommenden Seelen gereicht werden – oder im Gegenteil, schnallt man sie mir gerade deswegen, deslüften, an? – , und mich mit gebratenen Hühnerflügeln statt mit Schokoladepudding – aus Deutschland, dort gibt’s den besten! – begnügen. Wer vorkommt, möge es mir christlich verzeihen. Er – oder sie – sind nicht gemeint; nur ich, der Ekkehard-Ecce-Homo dieses Buchs, der es an der Ekkehardstraße in Zürich schrieb
-nein verbesserte –
dieses Vorwort während eines Erdbebens.

Zum Titel:

S. 391: Casanova, der größte erotische Schriftsteller aller Zeiten, begann sein gewaltiges Opus erst mit fünfundsechzig. An dessen Ende schrieb er:

„Mit fünfzig ist alles vorbei.“

Das traf bei mir nicht zu; vermutlich auch nicht bei Casanova. Aber er brach seine Lebensbeschreibung bei seinem fünfzigsten Altersjahr ab. Ich folge ihm hier in diesem Punkt.